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Gepflegte Ekstase im Steiner Windler-Saal

Aktualisiert: 16. Jan.

Zum zweiten Mal fand in Stein am Rhein das «Piano Jazz Festival» statt. Vom Donnerstag bis Sonntag brachten zwei Formationen an vier

Konzerten den Windler-Saal zum Kochen. Stimmen aus dem Publikum nannten das Ereignis vom Samstag: «Sensationell!»


Maurice Imhof, Initiator des «Piano Jazz Festivals» in Stein am Rhein, im Solospiel vor dem grossen Publikum.

STEIN AM RHEIN. Am Donnerstag und Freitag standen im Windler-Saal in Stein am Rhein die Konzerte mit Paolo Alderighi und Stephanie Trick sowie Maurice Imhof und David Ruosch (alle Piano) und dem Schlagzeuger Martin Meyer unter dem Motto «Classic Meets Jazz & Stride» auf dem Programm. Am Samstag und Sonntag zelebrierten Chris Conz, Maurice Imhof und David Ruosch an den Tasten zusammen mit Martin Meyer an den Trommeln «Classic meets Jazz and a Touch of Boogie».


Boogie in Anzug und Krawatte

Die in Anzug und Krawatte oder mit offenem, weißem Hemdkragen agierenden Musiker sorgten gleich selber für Stimmung, und zwar vom ersten Ton an. Den Anfang macht Maurice Imhof. Er kommt aus den Kulissen, setzt sich an einen der beiden Flügel, die mit dem Schlagzeug mitten im Saal aufgestellt sind, sodass sich das Publikum rund um die Akteure verteilt, und legt los.


Schon bald linst der eine oder die andere an den Köpfen oder Rücken der vorderen Reihe vorbei, um einen Blick auf die Hände Imhofs zu erhaschen, der den Stride-Piano-mäßigen, synkopierten Boogie-Rhythmus, wie man ihn vom viel später entstandenen Rock ‘n’ Roll her kennt, aus den Tasten zaubert. Und schon bringt der junge Mann seine Eröffnungsnummer zu Ende, begrüßt das Publikum, dankt den Sponsoren, und David Ruosch kündigt als ersten «Klassiker» Dvořák an, bei dem sich «Blue Notes» finden würden – wir erinnern hier an sein «Amerikanisches Streichquartett» und die Symphonie Nummer neun aus der neuen Welt des Komponisten, der Amerika und seine Musik kannte.


Inzwischen sitzt auch Martin Meyer an den Drums, die ganze Geschichte beginnt ganz schön zu swingen: eleganter Salon-Jazz. Aus dem überwiegend gediegen gekleideten und altersmäßig gemischten Publikum kommen die ersten «Bravo!»-Rufe. Langanhaltend ist der Applaus, Ruosch intoniert «When the Saints Go Marching In». Langsam beginnt es, und plötzlich klingt es wie ein Schnellzug auf den Schienen.


Szenenapplaus brandet auf

Nicht ganz an den Haaren herbeigezogen ist dieser Vergleich. Entstand diese Art der vorwärtsgetriebenen Klaviermusik des Boogie-Woogie Ende des 19. Jahrhunderts zur Zeit des Eisenbahnbaus in den Vereinigten Staaten, in den Barrelhouses und Juke Joints, wo die Arbeiter verkehrten, weit weg auf jeden Fall von der geglätteten Atmosphäre im Windler-Saal.


Aber die Musik rollt, begleitet von Meyer am Schlagzeug: Unspektakulär akzentuiert er die Rhythmen der Pianisten. Das Hörvergnügen honoriert das Publikum mit Szenenapplaus. Ruosch spielt «The Dazzler» von Johnny Guarnieri, dann geht’s weiter mit dem «Ping Pong Boogie». Das Publikum beginnt mitzuklatschen, Conz und Ruosch an einem Flügel, Imhof am zweiten, dann fliegender Wechsel. Es folgt der «St. Louis Blues» von W. C. Handy.


Die Virtuosität der Künstler bleibt notwendigerweise eingezwängt in das gewählte stilistische Korsett. Schlimm ist das nicht, nur tanzen können sollte das Publikum! Bei diesen Klängen stillzusitzen ist fast unmöglich. Die Musiker reihen Bravourstück an Bravourstück, und der Drummer Meyer wirbelt mit den Besen, als wären es Schneebesen, und man begreift, warum das Schlagzeug «die Küche» genannt wird. Würde es zu Hause allerdings in diesem Tempo her- und zugehen, müsste am nächsten Morgen wohl die Malerbrigade kommen.


Rossini, Bach und Johann Strauss

Und die Klassik? Die folgt jetzt: «Erbarme dich, mein Gott» von Johann Sebastian Bach. Dieses Stück hatte vergangenes Jahr einen Zuhörer so gerührt, dass er einen Aufnahmetermin im Studio sponserte. Die Interpretation von Imhof ist auch am Samstag berührend. Ohrenfällig wird, wie klein der Sprung von Bach zum Jazz ist.


Dann schickt Ruosch Mozart nach Kuba: «So würde es klingen, wenn er mit dem Schiff dort ankommt.» Je mehr sich draußen die Nacht über Stein am Rhein senkt, desto wärmer wirkt das Licht im Saal. Hier nimmt sich Maurice Imhof Beethovens «Für Elise» vor. Der Applaus ist groß. Weiter geht es mit der Ouvertüre zum «Barbier von Sevilla».


Alle diese Stücke und Bearbeitungen geraten zu virtuosen Showpieces von erheblichem Unterhaltungswert. Man vergisst den «klassischen» Ausgangspunkt. Dem Konzerterlebnis wird allmählich nichts Neues mehr hinzugefügt – ein sicheres Anzeichen, dass sich der Abend in Kürze dem Ende zuneigt. Und so ist es.


Bachs Toccata und Fuge in d-Moll wird zu einem Wettlauf der Pianisten von Piano zu Piano, das Publikum klatscht mit, der Schlussapplaus brandet auf. Zugaben sind Aram Chatschaturjans «Säbeltanz» und «Die schöne blaue Donau», die dann fast klingt wie «I Found My Thrill on Blueberry Hill».


Den «Thrill» hat das Publikum gefunden am Samstagabend. Der Saal tobt. Standing Ovations. «Sensationell!» – dieses Prädikat ist mehr als einmal zu hören. Sollte es mit dem «Piano Jazz Festival» in Stein am Rhein weitergehen, kann hier eine neue Tradition entstehen.

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