Eine kurze Geschichte des Boogie-Woogie & Blues Pianos
Wie kommt es zustande, dass trotz der heutigen Medienüberflutung die Stilrichtung des klassischen Boogie Pianos immer noch eine so große Fan-Gemeinde findet? Wer einmal ein richtiges Boogie-Konzert miterleben durfte, wird es verstehen:
“Boogie ist ein zwölftaktiges Antidepressivum, das den Zuhörer automatisch in gute Laune versetzt. Boogie-Woogie gilt als die heißeste Musik, die je für das Klavier erfunden wurde”, lautet ein Zitat von Boogie-Woogie König Axel Zwingenberger.
Auch zurückhaltendes Publikum taut spätestens nach dem ersten Chorus auf. Die echten Boogie Fans dagegen sind schon beim Erscheinen des Boogie-Pianisten “aus dem Häuschen”. Sie ziehen direkt mit: Zwischenapplaus, Pfeifen und Mitswingen sind angesagt. Ansteckender kann Klaviermusik kaum sein. Boogie Laune entsteht durch die einmalige Mischung aus Kraft, Swing, Frische und Blues, sehr rhythmisch, vorwärts gerichtet und scharf akzentuiert, zwischendurch verträumt – melancholisch, aber nie kitschig oder sentimental.
Der Anfang
USA, Texas, um 1900: Es ist das Zeitalter der Eisenbahnen. Schwarze, rhythmisch dröhnende und grell pfeifende Ungetüme, die vor allem eins brauchen: Holz. Holz zum Heizen, Holz für Schienen, Holz für Brücken. Der Osten von Texas hat Holz. Riesige Kieferwälder bedecken große Teile des Landes. Kiefern, die nicht nur Holz liefern, sondern deren Harz auch die Basis für Terpentinöl darstellt, dass hier abgezapft, in Fässer (Barrels) abgefüllt und in sog. Barrelhouses zwischengelagert wird. Die Arbeit ist hart. Bäume werden nach wie vor von Hand gefällt, zerteilt und mit Hilfe von Pferden und Ochsen bis zur nächsten Bahnstation abtransportiert. Freizeit gibt es nur Nachts und am Wochenende.
Als Ausgleich hatten sie Glücksspiele, Prostitution, Alkohol und natürlich die Musik. Nachts verwandelten sich diese „Fasshäuser“ in billige Spelunken, in denen bis früh in die Morgenstunden gefeiert wurde. Die Pianisten zogen von Lager zu Lager und verdienten so ihr bescheidenes Geld für acht Stunden Klavierspiel.
Im Lärm dieser meist übervölkerten Kneipen, so heißt es, habe der Pianist, der für die Unterhaltung der Gäste zu sorgen hatte, jeweils Mühe gehabt, sich lautstärkemässig durchzusetzten. Aus diesem Grund sei ein besonderer Stil erfunden worden, Barrelhouse eben, der sich durch einen starren, gehämmerten Bass und durch ebenso gehämmerte, lautstarke Staccati der rechten Hand ausgezeichnet habe. Der Name Boogie-Woogie gab es zu dieser Zeit noch nicht. Man nannte diese Art von Musik „Barrelhous-Piano“.
Wie der echte „Südstaaten Klavierstil“ klingen sollte, zeigten den Großstadt-Musikern u.a. die Geschwister Thomas, die den Ursprung des Boogie von Texas nach Chicago brachten: George Thomas, Hersal Thomas und deren Schwester Sippie Wallace. In die Geschichte ging vor allem das Wunderkind Hersal Thomas ein, der 1924, im Alter von 14 Jahren, eine Klavierrolle mit einem wegweisenden Klavierstück „The Fives“ einspielte. Klavierrollen sind gelochte Papierbänder in denen die Musik „gespeichert“ ist. Diese wurden für die automatisch spielenden Klaviere benutzt und waren dazumal sehr verbreitet.
In „The Fives“ steht der Zug und seine rollende Vorwärtsbewegung zum ersten Mal im Mittelpunkt. Das Thema “Zug” findet im Verlaufe der Boogie-Woogie-Geschichte noch einige weitere Variationen (z.B. im „Honky Tonk Train Blues“ von Mead Lux Lewis). Hersal Thomas, ein vielversprechender junger Musiker, der in Chicago als „King of House Rent Boogie Parties“ gefeiert wurde, starb leider im Alter von 18 Jahren unter nie zu Ende geklärten Umständen an einer Lebensmittelvergiftung. Seine Schwester Sippe Wallace gehörte zu einer der bekanntesten Bluessängerinnen und wurde in Deutschland durch die Zusammenarbeit mit Axel Zwingenberger bekannt, der ihr den „Blues for Sippie Wallace“ widmete. Sie erreichte ein hohes Alter und starb 1986 mit 88 Jahren.
Sucht man nach dem Ergebnis der frühen Entwicklung, so könnte man sich auf die vereinfachte musikalische Formel für Boogie „Ragtime plus Blues ergibt Boogie Woogie“ einigen. Typisch dabei – die zwölftaktige Bluesform, in der die linke Hand eine feste Bassfigur spielt, während die rechte für die Melodie zuständig ist. Es waren auf jeden Fall die Pianisten der ersten Generation wie Cow Cow Davenport, Clarence Pinetop Smith, Jimmy Yancey, Jimmy Blythe, Montana Taylor, Cripple Clarence Lofton, die Ragtime und Blues kombinierten und den Grundstein für den „klassischen“ Piano Boogie Woogie legten.
Einer der ersten Boogie-Woogie Pianisten, der mit seiner eigenen Musik berühmt wurde, war Charles Edward Davenport (1894-1956). Schon als Zwölfjähriger wollte er gegen den Willen der Familie Musiker werden. So hat man ihn ins Priesterseminar geschickt, wo er aber wegen Spielens von Ragtime rausgeworfen wurde. In den 20er Jahren erwarb er sich den ersten Ruhm als Begleiter der Bluessängerinnen Dora Carr und Ivy Smith. Mit seinem Stück „Cow Cow Blues“, in dem er mit dem Klavier einen Zug imitierte, schuf er sowohl seinen Spitznamen „Cow Cow“ als auch einen der meistgespielten Boogies aller Zeiten. Die Wirtschaftskrise und ein Schlaganfall unterbrachen seine Karriere in den 1930er Jahren.Eine Zeitlang musste er als Spülhilfe arbeiten, bis er 1938 von dem Jazzpianisten Art Hodes wiederentdeckt und rehabilitiert wurde.
Sein Song „Cow Cow Blues“ war der Grundstein für Ray Charles’ grossen Hit „Mess Around“.
Mitte der 1920er Jahre kam der Boogie-Woogie an die Ostküste der USA. Chicago und New York wurden die heimlichen Hauptstädte der Klaviervirtuosen. Richtig populär wurde der Boogie-Woogie aber auf eine etwas ungewöhnliche Art und Weise, und zwar durch die so genannten „House Rent Partys”.